Wiedervereinigung auf der Strecke
Der Mauerfall am 9. November 1989 traf auch die geteilte S-Bahn völlig unerwartet. Wie schnell und unbürokratisch damals gehandelt wurde, um dem Massenansturm Herr zu werden, zeigt: Eisenbahner:in bleibt Eisenbahner:in – egal ob Ost oder West.
"Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich". Es war der frühe Abend des 9. November 1989, als SED-Spitzenfunktionär Günter Schabowski seinen berühmt-berüchtigten Versprecher zum gelockerten Reisegesetz in die Mikrofone der Journalisten stammelte. Ein Versprecher, der weitreichende Folgen nach sich ziehen sollte: In Massen strömten die Ost-Berliner noch am selben Abend zu den Grenzanlagen und verlangten, in den Westen durchgelassen zu werden. Aber nicht nur zu Fuß waren Zehntausende unterwegs – auch auf den S-Bahnhöfen gab es schnell kein Durchkommen mehr. Ihr Reiseziel: Go West (und wieder zurück)!
Was unser Triebfahrzeugführer Dieter Müller in der Nacht des 9. Novembers 1989 erlebte:
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Es gab nur ein Problem: Mit dem Mauerbau war auch das Berliner S-Bahn-Netz geteilt worden; alle Linien waren an den Nahtstellen zwischen Ost und West unterbrochen – mit Ausnahme der Stadtbahn und der Nordsüd-S-Bahn, die am Bahnhof Friedrichstraße miteinander verknüpft waren. Aber auch von dort durfte keine S-Bahn mehr vom Ostteil der Stadt in den Westen und umgekehrt durchfahren. 28 Jahre lang hieß es daher am Grenzbahnhof Friedrichstraße sowohl aus Richtung Westen wie aus Richtung Osten: „Dieser Zug endet hier und fährt zurück“.
Triebfahrzeugführer bei der Deutschen Reichsbahn (Staatsbahn der DDR)
Der Verkehr mit West-Berlin wird eingestellt
Was damals passiert war, verrät ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher: Gegen Mitternacht des 13. August 1961 platzte Otto Arndt, Direktionspräsident der Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR, die in jenen Tagen das Gesamtberliner S-Bahn-Netz betrieb, in die Leitstelle. Seine unglaubliche Nachricht: Der Verkehr mit West-Berlin wird sofort eingestellt!
Zur gleichen Zeit öffnete der Fahrdienstleiter am Bahnhof Friedrichstraße einen Brief mit derselben Nachricht und stellte das Ausfahrtsignal auf Halt. Schlag auf Schlag wurden in den kommenden Stunden Eingänge zugemauert, Stromschienen abgebaut und Gleisstücke herausgesägt, um den Verkehr von Ost nach West zu unterbrechen. Ganze Bahnhöfe wurden von einem Tag auf den anderen stillgelegt und verkamen zu „Geisterbahnhöfen“, die ohne Halt durchfahren wurden.
Was den S-Bahnern nun – 28 Jahre später – zugute kommen sollte: Bis 1984 wurden die beiden S-Bahnteilnetze in Ost und West durch die Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR gesteuert. Und selbst nach der Übernahme des Westnetzes durch die BVG im Jahr 1984 hatte sich die Reichsbahn der DDR die Möglichkeit offen gehalten, Züge zwischen Ost und West überführen zu können. So konnten über die beiden Fernbahngleise des Grenzbahnhofs Friedrichstraße bei Bedarf S-Bahnzüge zwischen beiden Stadthälften ausgetauscht werden – natürlich ohne Fahrgäste. Es brauchte nur kurzzeitig der Strom eingeschaltet zu werden, und schon waren Überführungsfahrten zwischen Wannsee und Schöneweide möglich.
Hinzu kommt: Viele West-Kollegen von damals hatten 1984 nur die Uniform gewechselt und arbeiteten jetzt für die BVG. Auch auf Arbeitsebene beider Bahnbetreiber wurde weiterhin sachlich unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse zusammengearbeitet, so dass viele Dinge auf auf dem kurzen Dienstweg geregelt werden konnten. Diese Kollegialität unter Eisenbahnern, dieser „kurze Draht“ zueinander, sollte sich nun bewähren. Denn schnell wurde klar: Mit dem normalen Nachtfahrplan war dieser Menschenmasse kaum Herr zu werden.
1989 Betriebsleiter bei der Deutschen Reichsbahn (Staatsbahn der DDR)
Pendeldienst im Grenzgebiet
„Der Bahnsteig in Friedrichsstraße war schwarz [vor Menschen]!“ erinnert sich Triebfahrzeugführer Dieter Müller, der damals Nachtschicht hatte. Müller gehörte zu den wenigen Ost-Eisenbahnern, die die Staatsgrenze zwischen Berlin-Ost und Berlin-West überqueren durften. Kurz hinter der Grenze am alten Lehrter Stadtbahnhof (hier befindet sich heute der neue Hauptbahnhof) musste nämlich ein Ost-Reichsbahner den Zug aus dem Westen übernehmen und zum Bahnhof Friedrichsstraße hin und wieder zurück pendeln – bis zu 30 Mal während einer Schicht. Mit diesem Personalwechsel sollte sichergestellt werden, dass sich keine Flüchtlinge aus der DDR in den Wagen versteckten.
Doch statt sich in die jubelnden Massen einzureihen, blieb Müller auf seinem Posten – auch unter widrigsten Bedingungen. „Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich sah wie ‚Schlumpi‘ aus und war mit Sekt bespritzt von ‚Hacke bis Nacke‘.“ So wie Müller verhielten sich viele Lokführer – im Osten wie im Westen. Sie meldeten sich freiwillig zu Zusatzdiensten (oder konnten freundlich dazu überredet werden) und legten zahllose Überstunden ein.
Hilfe auf dem Osten
Spontan umdisponiert wurde auch auf der Leitungsebene: Statt im Zehn-Minuten-Takt fuhren die gerammelt vollen S-Bahnen im Westen nun teils alle fünf Minuten die Nacht hindurch und wurden, wo es ging, auf acht Wagen verstärkt. Doch woher die zusätzlichen Wagen nehmen? Die Idee lag fern und doch so nah: Aus dem Osten natürlich! Kurzerhand bat die BVG bei der Reichsbahn um Verstärkung.
Der Ruf wurde erhört: Schon am Abend des 10. November trafen via Friedrichstraße zwei S-Bahn-Vollzüge der DR in West-Berlin ein, um den Wagenpark der BVG zu verstärken – die ersten von vielen. Weil ihr Funksystem allerdings nicht kompatibel mit dem der Westfahrzeuge war und die Schilderkästen die Westhaltestellen nicht anzeigen konnten, wurden die Ost-Wagen in die Mitte der West-Züge eingereiht. Und so fuhren sie erstmals seit 1984 wieder Seit an Seit, die S-Bahn West und die S-Bahn Ost.
Wer allerdings glaubte, dass der Ansturm mit der ersten Nacht nachlassen sollte, wurde bald eines Besseren belehrt. Alles, was sich irgendwie auf die Schiene bringen ließ, fuhr nun; die S-Bahn-Fahrpläne in Ost und West wurden aufs maximalmögliche erweitert. Schließlich hatte nun auch noch das Wochenende begonnen – und ganz Berlin genoss die neue Reisefreiheit. In vollen Zügen, aber glücklich. Der Tagesspiegel vom 11. November berichtet von chaotischen Zuständen und Gedrängel auf den Bahnsteigen der Friedrichsstraße – wohlgemerkt in beide Richtungen – und zitiert einen älteren Herren: „Det hab ick ooch noch nich erlebt, daß ma anstehen, um wieder rin zu kommen.“
Triebfahrzeugführer bei der Deutschen Reichsbahn (Staatsbahn der DDR)
Es bewegt sich was!
Und auch sonst bewegte sich in diesen turbulenten Tagen so einiges, was über Jahre nicht so einfach umzusetzen war. Spontane Absprachen zwischen BVG, Reichsbahn und DDR-Grenzern waren in der Euphorie des Moments möglich, die vorher undenkbar schienen. Dr. Wolf-Ekkehart Matthaeus, 1989 Betriebsleiter bei der DR-S-Bahn, erinnert sich, wie lapidar ein Grenzkommandant reagierte, als eine Signalschaltung angesprochen wurde, die einen schnelleren Verkehrsfluss zwischen Lehrter Bahnhof und Friedrichstraße seit 1984 verhindert hatte: „Baut das Ding doch aus“.
Doch bei der spontanen Zusammenarbeit sollte es nicht blieben. Als mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 auch alle Grenzkontrollen abgeschafft wurden, war klar: Die Wiedervereinigung des Berliner S-Bahn-Netzes ist nicht mehr aufzuhalten. Gleise, die seit dem Mauerbau unterbrochen waren, wurden nun wiederhergestellt - und zwar in Rekordzeit! Bereits am frühen Morgen des 2. Juli fuhr mit „Berta 7“ der erste Zug aus dem Osten über den Bahnhof Friedrichstraße wieder in Richtung Westen – auf Gleisen, die zuletzt 1961 genutzt worden waren. Ironie der Geschichte: Mit im Wagen saß ausgerechnet jener Triebfahrzeugführer, der am Tag des Mauerbaus den letzten Zug nach West-Berlin überführt hatte.
Wie der Kalte Krieg die S-Bahn zerschlug
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Berliner S-Bahn von der Deutschen Reichsbahn (DR), der Staatsbahn der DDR, betrieben – und zwar auch im Westteil der Stadt. Die Bahn war beliebt, auch wegen der kürzeren Fahrzeiten und der niedrigen Preise: 20 Pfennig kostetet eine Einzelfahrt damals – das war deutlich günstiger als das Konkurrenzangebot der BVG. Für die DDR war es ein lohnendes Geschäft, da die Fahrkarten in DM bezahlt werden mussten und der „Arbeiter- und Bauernstaat“ auf diese Weise dringend benötigte Devisen einnehmen konnte.
Mit dem Mauerbau 1961 änderte sich die Situation schlagartig. Waren die S-Bahnen bis dato auch vom Osten in den Westen und zurück gefahren, wurden Verbindungen nun auf Befehl des SED-Politbüros gekappt und ganze Bahnhöfe entlang der Grenze gesperrt. Zwei voneinander getrennt betriebene Teilnetze entstanden, beide von der Deutschen Reichsbahn (Staatsbahn der DDR) betrieben. So endeten auf dem Grenzbahnhof Friedrichstraße die Züge aus West-Berlin auf einem anderen Gleis als die Züge aus Ost-Berlin; eine Wand wurde eingezogen, um Sichtkontakt zu verhindern und Fluchtversuche zu unterbinden.
"Wer S-Bahn fährt, bezahlt Ulbrichts Stacheldraht"
Die empörte Reaktion aus dem Westen ließ nicht lange auf sich warten: Mit Slogans wie "Wer S-Bahn fährt, bezahlt Ulbrichts Stacheldraht" riefen Westberliner Gewerkschaftler und Politiker wie Willy Brandt zum Boykott des Verkehrsmittels auf. Parallele Bus- und U-Bahnlinien wurden eingerichtet und alle Hinweise auf das S-Bahnnetz von den Bahnhöfen und Haltestellen getilgt. Die S-Bahn-Wagen im Westteil Berlins fuhren nun oft leer, was der DDR-Reichsbahn herbe finanzielle Verluste bis 140 Millionen DM pro Jahr bescherte. Im Ostteil der Stadt blieb sie dagegen ein wichtiges Verkehrsmittel: Zu den Zehnten Weltfestspielen 1973 erreichten die Zahlen mit bis 1,2 Millionen Fahrgästen einen neuen Höhepunkt.
Die Boykott-Disziplin der West-Berliner hielt lange: Noch bis Anfang der 1980er galt es als verpönt, mit der „Honecker-Bahn“ zu fahren – was aber nicht alle abschreckte: Einige Zehntausend pro Tag nutzten das günstige Verkehrsmittel weiterhin, selbst wenn die Bahnhöfe immer weiter verkamen und immer mehr Strecken geschlossen wurden: Von den ursprünglich zehn Linien wurden schließlich nur noch drei bedient. Fahrgastinitiativen wie die IGEB drängten die Berliner Politik daraufhin, sich um eine Wiedereingliederung der S-Bahn ins Westberliner Verkehrsnetz zu bemühen. Der DDR kamen diese Vorstöße gelegen, suchte man doch nach einem eleganten Weg, das Verlustgeschäft loszuwerden.
Die BVG übernimmt
Der S-Bahn-Streik von 1980, der mit der Entlassung vieler Westberliner Mitarbeiter und weiteren Streckenstilllegungen endete, brachte das Thema zurück auf die politische Tagesordnung und Bewegung in die Lage. Nach vergleichsweise wenigen Verhandlungsrunden übernahm der West-Berliner Senat in den frühen Morgenstunden des 9. Januar 1984 mit der BVG den Betrieb des westlichen S-Bahn-Netzes von der DDR-Reichsbahn – und damit auch 672 Mitarbeiter und 119 Viertelzüge. Aus Kostengründen und Personalmangel wurde der Betrieb allerdings zuerst nur auf 21,15 km des 144,8 Kilometer großen Netzes wiederaufgenommen. Ab 1. Februar 1985 waren es dann immerhin 71,49 km. Es blieb also noch viel zu tun.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurden die Karten komplett neu gemischt.* 1994 fusionierten die (West-)Deutsche Bundesbahn und die (Ost-)Deutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG. Mit der Gründung des neuen Unternehmens gingen die Betriebsrechte für die West-Berliner Strecken der S-Bahn von der BVG an die Deutsche Bahn AG über, die die S-Bahn ein Jahr später als hundertprozentiges DB-Tochterunternehmen ausgliederte – die Geburtsstunde der heutigen S-Bahn Berlin GmbH.
* Korrektur 07.08.2024: An dieser Stelle stand bis vor kurzem der Satz: "Gemäß dem Einigungsvertrag [vom 31. August 1990] erfolgte der Beschluss, das Schienennetz der S-Bahn wie es 1961 bestand, wieder herzustellen." Dies ist falsch und beruhte leider auf einem Missverständnis: Eine ähnliche Formulierung findet sich in der im Dezember 2002 abgeschlossenen Finanzierungsvereinbarung „Sammelvereinbarung Nr. 14/2002 Grunderneuerung der S-Bahn Berlin", wonach Bund und DB AG das Ziel erklärten, das Netz der S-Bahn Berlin zum Bezugszeitpunkt vom 12. August 1961 weitestgehend wiederherzustellen und das zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung von der Deutschen Reichsbahn betriebene Netz zu sanieren und zu modernisieren.
Quellennachweis
Für Geschichtsfreunde und S-Bahn-Enthusiasten bietet Mike Straschewski auf seiner privat betriebenen Webseite Stadtschnellbahn Berlin intensive Recherchen und Lesestoff. Im Internetarchiv der Fachzeitschrift Signal werden Sie zum Thema Kalter Krieg, Mauerfall und S-Bahn ebenfalls fündig. Diese beiden Quellen waren elementarer Bestandteil der Recherchen für diesen Artikel, insbesondere die geführten Interviews von Mike Strachewski mit Dieter Müller, Dr. Wolf-Ekkehart Matthaeus und Henning Brendel.